"Oiseaux-Tempête", auf deutsch "Sturmvögel", war zunächst ein Projekt, das sich 2012/13 rund um eine Griechenlandreise der beiden Musiker Frédéric D. Oberland (Gitarre) und Stéphane Pigneul (Bass), gemeinsam mit dem Photographen und Experimental-Filmer Stéphane Charpentier (damals Stéphane C.) entwickelte. Charpentier wollte die existenziellen Konflikte dokumentieren, die durch die ökonomische Krise in Griechenland hervorgerufen wurden. Oberland und Pigneul sollten den Sountrack zu seinem Film liefern, aber es wurde sehr viel mehr daraus. Zurück in Frankreich begannen sie zusammen mit dem Schlagzeuger Ben Mc Connell an einem Album zu arbeiten, das die Befindlichkeiten einer zunehmend dysfunktionalen Gesellschaft, deren erstes Symptom, nicht Ursache, der Kollaps in Griechenland ist, in eine musikalische Form bringen sollte.

Ein Feuer entflammt in der Ferne, aufgeregte Auseinandersetzung wechselt mit Momenten des Friedens, die zunehmende Gewaltbereitschaft wird musikalisch hörbar, eine Programmmusik deren Leitmotiv die Krise unserer Welt ist.

Das war vor zwei Jahren - inzwischen Oiseaux-Tempête, die Künder des nahenden Sturms, haben sich als Band etabliert und, verstärkt durch den Bassklarinettisten Gareth Davis, entstand ein neues Album.

Oiseaux-Tempête - Ütopiya?

Utopia (türk. Ütopiya), die ferne Insel. Wer glaubt noch daran? Auch die Träume verblassen, jede Hoffnung daruf ist längst begraben. Denn selbst wenn es sie gäbe - der Sturm ist gekommen, das Schiff bereits gekentert - wie sollten wir jemals dort hingelangen?
Oder könnten wir das Schiff noch einmal flott machen? Könnten wir erneut die Suche nach Utopia aufnehmen? Ausgerechnet die Sturmvögel singen uns dieses Lied.

Ütopiya?
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Die instrumentale Einleitung bildet "Omen: Devided we fall"[1] - Vereint stehen wir, getrennt fallen wir! Dieses biblische Prinzip wird in der Partikularisierung unserer Gesellschaft deutlich, denn wir lassen uns "auseinanderdividieren", was uns von einer Krise in die nächste torkeln lässt, ohne bestehende Herschaftsansprüche in Frage zu stellen.

In "Ütopiya? / On living" gibt es erstmals Gesang, wenn auch Sprechgesang, denn G.W.Sok[2] (ehem. Sänger der Punk-Band The Ex, beteiligt an verschiedenen Avantgarde- und Freejazz-Projekten), spricht Gedichte von Nâzım Hikmet[3], einem der bedeutensten türkischen Dichter, der in seiner Heimat verfolgt, mit Publikationsverbot belegt, viele Jahre eingesperrt, schließlich ausgebürgert wurde und nie aufgehört hat, für seine Ideale einzustehen.

"Ütopiya? / On living" kann auf Soundcloud gehört werden:

Auch im Folgenden gibt es Text - "Someone must shout that we will build the pyramids" stammt aus Andrei Tarkowski's "Nostalghia"[4]. In einer Welt des Konsums und Gewinnstrebens bleibt die Spiritualität auf der Strecke und nur der scheinbar Wahnsinnige hält Werte hoch, für die es sich zu leben und zu sterben lohnt.

Im Weiteren gibt es keinen prominenten, auch am Cover abgedruckten Text mehr, aber "field recordings" - Schnipsel von Reden, Interviews, Hintergrundstimmen - die, nur teilweise verständlich, in die Musikstücke eingearbeitet sind und ebenso wie die Titel durch das "Programm" des neuen Albums führen. "Wahrsager", "Plötzlich der Himmel" und "Die schrecklichen Kinder" leiten durch eine turbulente, aber gar nicht so hoffnungslose Reise, die schließlich zu den "Portals Of Tomorrow" führt - "... the choice will come!"

"Requiem for Tony" bezieht sich vermutlich auf Tony Dye, in den 1980er Jahren höchst erfolgreichen Finanzjongleur und Kassandra der Finanzmärkte, der 2008, kurz bevor die von ihm angekündigte Weltfinanzkrise ausbrach, aus dem Leben schied (→Fußnote).

Das Album beschließt "Aslan Sütü", zu deutsch "Löwenmilch", wie die Türken liebevoll ihren Raki nennen, der mit Wasser milchig wird und der uns Löwenkraft verleiht, die wir brauchen ... zum Wohl!

>>>  Ütopiya? - Tracklist  >>>

Von der Release Party des neuen Albums am 24. Juni 2015 gibt es einen Livemitschnitt[5]. Neben "Someone must shout that we will build the pyramids" und "Ütopiya? / On living" sind "Ouroboros", der "Selbstverzehrer"[6] von ihrem ersten Album und das The Cure-Cover "Pornography"[7] zu hören.

Abschließend will ich, abseits des aktuellen Albums, noch ein Hörbeispiel oder, besser gesagt, ein Hör- und Sehbeispiel präsentieren, denn der Film von Stéphane C. mit Musik von Oiseaux-Tempête ist ein Gesamtkunstwerk.
Der Titel "The divided line" bezieht sich offenbar auf das, was auf deutsch als Platon's Liniengleichnis[8] bekannt ist, aber wohl auch auf die zunehmende Aufspaltung der Menschen in verschiedene Gruppen, die gegeneinander ausgespielt werden - teile und herrsche.

Alternativ gibt es den Film auch mit mit griechischen Untertiteln[9], deutsche oder englische Untertitel sind nicht verfügbar, aber der Film ist überwiegend in englischer Sprache.

Wer jetzt auf den Geschmack gekommen ist, findet noch mehr von und über Oiseaux-Tempête im Internet. Französischkenntnisse wären kein Nachteil.

ernstl x, 29. Dezember 2015 / 9. Jänner 2016

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>>> Übersicht: Meine Alben 2015 <<<

Externe Links:
[1] Soundcloud: "Omen: Divided We Fall" oder zusammen mit "Ütopiya? / On living" und "Requiem for Tony" als Playlist
[2] Wikipedia: G.W.Sok (engl.), ehemaliger Sänger der Band The Ex
[3] Wikipedia: Nâzım Hikmet, türkischer Dichter
[4] Wikipedia: "Nostalghia", Film von Andrei Tarkowski
[5] VIDEO: Livemitschnitt der Release Party des neuen Albums am 24. Juni 2015, Petit Bain, Paris
[6] Wikipedia: Ouroboros, der Selbstverzehrer;
        VIDEO: vom Musikstück gibt es ein hervorragendes Offizielles Live-Video auf Vimeo
[7] Wikipedia: über das Album "Pornography" (engl,) von The Cure
[8] Wikipedia: das Liniengleichnis, Gleichnis aus der antiken Philosophie

Oiseaux-Tempête im Internet:
oiseaux-tempete.com
fredericdoberland.com
stephane-charpentier.com
Sub Rosa (Label von Oiseaux-Tempête)
Oiseaux-Tempête auf Youtube
Oiseaux-Tempête auf Vimeo
Oiseaux-Tempête auf Facebook

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Ütopiya? - Tracklist

  • Release Date 04 May 2015
  • Label Sub Rosa
  • Produced by Oiseaux-Tempête & Benoît Bel

Music composed and performed by Oiseaux-Tempête
Recorded live in three days by Benoît Bel at Mikrokosm, Lyon, in March 2014
Edited and mixed by Oiseaux-Tempête at Magnum Diva
Mastered by Harris Newman at Grey Market, Montréal

  1. Omen: Divided We Fall
  2. Ütopiya / On Living*
  3. Someone Must Shout That We Will Build The Pyramids**
  4. Fortune Teller
  5. Yallah Karga [Dance Song]
  6. Soudain Le Ciel
  7. I Terribili Infanti
  8. Portals Of Tomorrow
  9. Requiem For Tony
  10. Aslan Sütü [Santé, Vieux-Monde!]

*) Gedichte von Nâzım Hikmet, englisch von Randy Blasing & Mutlu Konuk
**) Text aus "Nostalghia" von Andrei Tarkowski

Band

  • Frédéric D. Oberland - guitar, mellotron, piano, keys, alto sax, field recordings
  • Stéphane Pigneul - bass VI, guitars, sampler, drum machine
  • Ben Mc Connell - drums, percussion
  • Gareth Davis - bass clarinet
  • G.W.Sok - guest vocals on "Ütopiya / On Living"


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Fußnote der Geschichte: Tony Dye

In den 1980er Jahren war Tony Dye ein höchst erfolgreicher Fond-Manager. Er wurde berühmt dafür Krisen vorherzusagen an die niemand glauben wollte, aber internationale Wirtschaftsblätter boten dem ständigen Systemkritiker immer gern eine Plattform und gaben ihm den Spitznamen "Dr. Doom" (... wie anderen vor ihm). Er glaubte an konservative Veranlagung und hielt nichts davon, auf jedes neue Pferd zu setzen, nur weil dieses schnelles Geld versprach. In den 1990er Jahren weigerte er sich, Dotcom-Aktien zu kaufen und warnte sogar die britische Regierung vor ihren unsicheren Investments. "Die Politiker erkennen eine Blase erst, wenn sie geplatzt ist ..." sagte er, aber nicht nur die Politiker hörten nicht auf ihn, auch seine Klienten liefen ihm davon und Anfang 2000 verlor er seinen Job - kurz bevor die Dotcom-Blase platzte. Von ihm veranlagte Anlageformen hatten 2007 einen rund 85% höheren Ertrag als der Durchschnitt aller Veranlagungsformen (seit 1990).
In Folge machte er sich selbständig und veranlagte weiter nach seinen Grundsätzen. Auch medial war er weiter aktiv, aber es heißt, er wurde zunehmend paranoid und sah eine große Verschwörung. Er sagte 2005 eine baldige Finanzkrise voraus, bei der 30% aller Vermögen vernichtet werden würden, doch die Krise kam nicht. Aber nicht nur das vertrieb seine Kunden, denn in den 2000er Jahren gaben zunehmend nur noch Benchmarks den Ausschlag, wo investiert wurde und so ging seine Firma 2007 Pleite. Am 10. März 2008 nahm sich Tony Dye das Leben - kurz bevor ...

Von Tony Dye gibt es keinen Wikipedia-Eintrag und alles, was von seinem Leben bleibt, sind einige Nachrufe und Würdigungen in verschiedenen Wirtschafts- und anderen Zeitungen, wie Economist, Financial Times, Independent oder The Telegraph, aus denen ich alle Informationen über sein Leben entnommen habe.


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